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Therapy-Slang: Hysterisch

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„Die ist ja total hysterisch!“, wenn es um eine Frau geht, die sich in den Augen mancher etwas zu lautstark gemeldet hat oder die Frage „Sind die Menschen einfach nur hysterisch geworden?“, wenn es darum geht, dass Menschen übermäßig viel Toilettenpapier, Nudeln oder Mehl kaufen, wie wir es in den letzten Jahren beobachten konnten…

 

Der Begriff „hysterisch“ findet sich heute im alltäglichen Sprachgebrauch wieder und meint eine nervöse Aufgeregtheit, übertriebene Emotionalität, Theatralik und Überspanntheit im Verhalten. Meistens sind es Frauen, die als hysterisch bezeichnet werden, wie schon Hildegard Knef treffend zusammenfasste: „Brüllt ein Mann, ist er dynamisch, brüllt eine Frau, ist sie hysterisch.“

 

Bente Klein, EAP-Beraterin bei INSITE, gibt uns Einblick in diesen veralteten Begriff und klärt uns darüber auf, wie dieser Begriff in der Psychologie Verwendung findet.

 

Dass der Frau das „Hysterische“ ungerechtfertigterweise so anhaftet, lässt sich gut über die Geschichte dieses Begriffs erklären. Seit der Antike wird die Hysterie beschrieben als eine psychische Erkrankung der Frau, die auf eine erkrankte Gebärmutter (hystéra, altgriech. =  Gebärmutter) zurückzuführen sei. Die Gebärmutter müsse regelmäßig mit Samen „gefüttert“ werden, da sie ansonsten im Körper „suchend umherschweife“ und sich sogar im Gehirn „festbeißen“ könne, was die typisch hysterischen Verhaltensweisen und Anfälle auslösen würde. So würde die Hysterie mit Persönlichkeitsmerkmalen, wie Ich-Bezogenheit, einem hohen Geltungsbedürfnis, Kritiksucht, etc. einhergehen[1] und sich beispielsweise in Umsichschlagen, Halluzinationen, Ohnmacht oder Starrkrämpfen äußern, ohne dass eine körperliche Ursache zu finden sei.

 

Bis ins 19. Jahrhundert hinein war man der Überzeugung, diese Erkrankung betreffe nur Frauen. Die Symptome, die körperlich nicht zu erklären waren, seien nur Simulation und Übertreibung und dienten als Beweis dafür, dass dieFrau eben wankelmütig und unglaubwürdig sei.

 

Aus heutiger Perspektive und unter Einbeziehen von geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskursen lässt sich sagen: Körperliche Symptome wurden zum Spiegelbild gesellschaftlicher Themen. Erinnert sei an die kontrovers geführten Debatten um Nervenkrankheit, Erotik, unterdrückte Sexualität, Lüge und Tabu.[2] Während die Künstler des fin de siècles – in dem Fall waren es zumeist Männer - diese Projektionen auf vielfältige Weise in den Wiener Salons und Pariser Boudoirs auslebten, können die nach außen gekehrten Seelenzustände gleichsam auch als Manifestationen von Schwierigkeiten verstanden werden, die viele Frauen in der Zeit hatten, mit diesen verwirrenden Projektionen umzugehen.[3]

 

Durch Charcot und Freud veränderte sich das rein weibliche Bild der Hysterie langsam. Charcot, ein französischer Arzt und Hysteriespezialist, untersuchte erstmals wissenschaftlich die Hysterie in der Salpêtrière in Paris. Er bediente sich dabei aber auch martialischer Methoden und stellte seine Patientinnen in den Leçons du Mardi zur Schau. Aus heutiger Sicht ethisch mehr als fragwürdig und selbst zur damaligen Zeit nicht ohne Kritik. Freud distanzierte sich von den damaligen Praktiken an der Salpêtrière und beschrieb die Hysterie als eine Konversionsneurose, in der „ein innerseelischer Konflikt […] durch Umwandlung seelischer Energie in körperliche Symptomatik zu lösen“ [4] versucht wird und für dessen Behandlung er seine Psychoanalyse entwickelte.  

 

Heute ist der Begriff der Hysterie aus medizinischer Sicht veraltet. Die beschriebene Symptomatik findet sich heute im ICD-10 der WHO in den Dissoziativen Störungen (F44) oder in der Histrionischen Persönlichkeitsstörung (F60.4) wieder. Dissoziative Störungen bestehen dabei in einem „teilweise oder völligen Verlust der normalen Integration und Erinnerung an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der Wahrnehmung unmittelbarer Empfindungen sowie der Kontrolle von Körperbewegungen“ (ICD-10), häufig ausgelöst durch ein belastendes Lebensereignis oder eine Traumatisierung. Dabei sind die Symptome immer Ausdruck des inneren Konzepts einer Person von körperlichen Erkrankungen, ohne aber, dass der Symptomatik eine wirkliche körperliche Ursache zugrunde liegt. In den meisten Fällen sind diese Symptome nach einigen Wochen bis Monaten rückläufig.

 

Von der histrionischen Persönlichkeitsstörung sprechen Fachleute dann, wenn die Symptome überdauernd und charakteristisch für die Person sind und es hierüber in ihrem sozialen Umfeld immer wieder zu Konflikten kommt. Menschen mit einer histrionischen Persönlichkeitsstruktur neigen zu einer oberflächlichen Affektivität, Theatralik, Egozentrik, einem übertriebenen Ausdruck an Gefühlen, einer erhöhten Kränkbarkeit und einem hohen Bedürfnis nach Anerkennung und „gesehen werden“. Zudem zeigt sich häufig ein besonders verführerisches, flirtendes Auftreten und eine intensive Beschäftigung mit der äußerlichen Attraktivität. In der psychotherapeutischen Behandlung heutzutage würde es darum gehen, ein Verständnis für die eigene Symptomatik und ihre individuellen Ursachen zu entwickeln, die Bedürfnisse dahinter zu verstehen, ggf. traumatische Erfahrungen aufzuarbeiten, ein stabileres Selbstbild und Selbstwerterleben sowie tragfähige Beziehungen aufzubauen und angemessenere Strategien zum Umgang mit diesen Bedürfnissen zu entwickeln. Und dies alles – im Vergleich zu früher - vor dem Hintergrund eines humanistischen Menschenbildes. 

 

Und was die Heilung der ganz „normalen Hysterie“ in der Bevölkerung betrifft: Vielleicht tut uns allen auch hier ein wertschätzendes und auf Verständnis füreinander abzielendes Miteinander gut, um etwas Ruhe in die nervöse Gesellschaft zu bringen.

 

 


[1]

de.wikipedia.org/wiki/Hysterie

[2]Nolte, Karen: Gelebte Hysterie Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900, 2003.

[3]

www.sueddeutsche.de/kultur/hysterische-frauen-im-19-jahrhundert-wahnsinn-war-weiblich-1.1230420-2

[4]

www.wicker.de/kliniken/hardtwaldklinik-i/behandlungsschwerpunkte/histrionische-persoenlichkeitsstoerung/